top of page
Cerca

NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

  • Immagine del redattore: perspicillum
    perspicillum
  • 22 gen 2021
  • Tempo di lettura: 6 min

Aggiornamento: 1 lug 2021

Plácido Domingo: «Wir haben alle grossen Bedarf an schönen Dingen»

Michael Stallknecht

22/01/2021


Er steht seit sechs Jahrzehnten auf der Bühne, hat eine Covid-19-Erkrankung hinter sich und einen Skandal wegen sexueller Übergriffe. Trotzdem träumt Plácido Domingo noch immer von neuen Rollen. Ein Gespräch zum 80. Geburtstag am 21. Januar.


Den «Marathon-Mann» hat ihn der Stimmenexperte Jürgen Kesting einmal genannt: Seit mehr als sechzig Jahren steht Plácido Domingo nun auf der Bühne, an diesem Donnerstag begeht er seinen 80. Geburtstag. Mehr als 150 Rollen hat er während dieser Zeit in Tausenden Vorstellungen gesungen, seine Diskografie deckt das gesamte Spektrum des schwereren italienischen, französischen und deutschen Tenorfachs ab. Das Interview mit dem Vielbeschäftigten wurde schriftlich geführt, wobei Domingo ein paar Fragen, auch zu den 2019 gegen ihn erhobenen Vorwürfen sexueller Belästigung, unbeantwortet gelassen hat.


Herr Domingo, im vergangenen Jahr haben Sie sich mit dem Coronavirus angesteckt. Wie hat es sich angefühlt?

Es waren schwierige Tage: in Angst vor dieser Krankheit, von der man zu Beginn wenig wusste, aber sehr wohl verstand, dass sie schnell einen schweren Verlauf nehmen konnte. Dazu die erzwungene Isolation, zu der man genötigt ist. Als es mir besserzugehen begann und schliesslich die negativen Tests kamen, habe ich mich wahrhaft wie neu geboren gefühlt. Mein Zimmer zu verlassen und meine Lieben wiederzusehen, wenn auch mit tausend Vorsichtsmassnahmen, war eine unsagbare Freude.

Hat die Krankheit noch einen Einfluss auf Ihr gegenwärtiges Leben?

Gott sei Dank bin ich vollständig genesen. Ohne Zögern, aber vorsichtig habe ich mit Gymnastik und Atemübungen begonnen. Nach der langen Zeit der Untätigkeit haben diese anfangs recht einfachen Übungen sehr geholfen, und ich konnte sie nach meinen Möglichkeiten abändern, um jene Muskeln zu stärken, die für das Singen notwendig sind.

Morgen Abend singen Sie in einem Streaming von Verdis «Nabucco» an der Wiener Staatsoper. Hätten Sie sich irgendeine andere Form vorstellen können, als die Tage rund um Ihren Geburtstag arbeitend zu verbringen?

Ich bin froh, dass ich mit achtzig Jahren meinen Geburtstag sozusagen singend feiern kann. Leider ist die Pandemie noch nicht beendet, deshalb wird die Aufführung in einem leeren Theater stattfinden. Ich finde es schade, nicht vor Publikum zu singen. Aber ich denke, dass wir Künstler alle die Pflicht haben, weiterhin Musik zu machen. Das Theater muss in der Erwartung einer Rückkehr zur Normalität weiterleben, weil wir alle einen grossen Bedarf an schönen Dingen haben und die Kunst sie uns bieten kann.

Ist es ein Geschenk der Natur oder etwas anderes, was es einem Sänger ermöglicht, mehr als sechzig Jahre auf der Bühne zu stehen?

Es ist sicher ein Geschenk des Himmels, dass meine Stimme nach so vielen Jahren und so enorm vielen Vorstellungen noch da ist. Ich versuche, mich beständig im Training zu halten, und glaube im Rückblick, dass ich die richtigen Entscheidungen bei meiner Repertoirewahl getroffen habe. Und dass ich meinem Körper, trotz einem sehr dichten Kalender und den vielen Reisen, die notwendige Zeit gegeben habe, um zwischen den verschiedenen Verpflichtungen zur Ruhe zu kommen. Das, was mir immer grosse Energie gegeben hat, ist die Leidenschaft für die Musik: Wenn du es geschafft hast, aus deinem Traum deinen Beruf zu machen, kannst du dir nur wünschen, dass der Traum weitergeht.

Ihre Kollegin Magda Olivero, die ebenfalls ungefähr bis zum achtzigsten Lebensjahr auf der Bühne stand, hat einmal gesagt, dass man selbst mit der besten Technik nichts gegen den Alterungsprozess der Stimmmuskulatur tun könne. Müssen Sie heute anders üben als früher?

Magda Olivero war eine ausserordentliche Künstlerin, ich erinnere mich mit wärmsten Empfindungen an unsere Vorstellungen von «Manon Lescaut» und «Adriana Lecouvreur». Es ist absolut zutreffend, was sie gesagt hat, weil die Stimme ständig in Entwicklung ist. Unser Instrument ist in uns selbst und reagiert auf alles, was unserem Körper und Geist widerfährt. Daher ist es wesentlich, frühzeitig Veränderungen zu erspüren und ihnen Rollenentscheidungen bewusst anzupassen.

Nabucco ist eine der Partien, die Sie seit Ihrem Wechsel ins Baritonfach übernommen haben. Sehen Sie sich heute selbst als Bariton oder als Tenor, der Baritonrollen singt?

Ich singe mit meiner Stimme, die heute anders ist als vor zehn, zwanzig oder sechzig Jahren. Ich habe ganz jung als Bariton zu singen begonnen, bin aber quasi sofort ins Tenorfach gewechselt, wobei ich allerdings jeden Tag daran gearbeitet habe, mir den Stimmumfang des Tenors zu erobern. Sehr bald schon habe ich dramatischere Rollen übernommen, bis hin zu denen des Heldentenors bei Wagner, der das Bindeglied zwischen Tenor und Bariton bildet. Kritiker können natürlich den «Tenor-Domingo» dem «Bariton-Domingo» gegenüberstellen, aber im Grunde versuche ich das zu sein, was ich gerade darstelle, und bis ans Äusserste die Möglichkeiten zum Ausdruck zu bringen, die meine Stimme mir bietet.

Kritiker sagen, dass manche Ihrer Interpretationen stilistisch zu indifferent geblieben seien. Hätten Sie manchmal gern mehr Zeit zur Vertiefung gehabt?

Ich habe immer versucht, jede Rolle zu vertiefen und ihr einen authentischen emotionalen und genau gedeuteten Charakter zu verleihen. Selbstverständlich lässt ein Interpret die Rolle bei jeder Vorstellung wachsen, und es gibt Rollen wie Verdis Otello, in denen ich Hunderte Vorstellungen gesungen habe, und andere, die ich nur für eine einzelne Produktion gesungen und danach wieder gelassen habe.

Der Schauspieler Laurence Olivier hat über Sie gesagt: «Domingo spielt den Othello so gut wie ich und hat auch noch diese Stimme.» Wenn Sie entscheiden müssten: Was mögen Sie lieber auf der Bühne: singen oder darstellen?

Für mich ist es unmöglich, den Gesang vom Schauspiel abzuspalten und das Schauspiel vom Gesang: Ich fühle mich immer zuallererst als Interpret. Die Oper ist schliesslich die Synthese aller Künste und muss es schaffen, Emotionen zu vermitteln.

Gibt es noch eine Rolle, die Sie in den kommenden Jahren angehen möchten?

Mehr als eine: Ich würde gern die Baritonrollen in Verdis «La forza del destino» und in «I vespri siciliani» übernehmen. Und dann gibt es noch einige wirklich schöne Zarzuelas wie «Los Gavilanes», «La Leyenda del beso» und «La del Soto del Parral».

Vor eineinhalb Jahren wurden Sie von mehreren Frauen der sexuellen Belästigung beschuldigt. In der Folge mussten Sie als Generaldirektor der Los Angeles Opera zurücktreten und wurden von den Opernbühnen in den USA und in Ihrem Heimatland Spanien verbannt. Wie schauen Sie heute auf diese Entwicklung zurück?

Heute denke ich an diese sicher nicht einfachen Monate mit grösserer Gelassenheit, weil vor allem die zwei internen Untersuchungen, mit denen ich kooperiert habe, ohne Nachweis irgendeiner Form von Missbrauch abgeschlossen wurden. Ausserdem bin ich im Sommer dieses Thema in mehreren führenden Medien angegangen. Dabei konnte ich, hoffe ich, gewisse Missverständnisse klären, die durch eine Verzerrung von Informationen in der Presse entstanden waren. Ich habe die Entscheidung der Institutionen meines Landes hinsichtlich des Teatro de la Zarzuela sehr bedauert, weil ich diesem emotional tief verbunden bin, auch durch all das, was die Zarzuela für mein Leben bedeutet hat. Ich hoffe, zu einer Klärung mit den zuständigen Institutionen zu kommen. Mittlerweile erhalte ich glücklicherweise Einladungen, und für dieses Jahr – hoffentlich dann in einer verbesserten Pandemielage – habe ich schon ein paar Projekte auch in Spanien.

Ihre Karriere fällt grösstenteils mit der goldenen Ära der Plattenfirmen zusammen, daneben haben Sie umfangreiche Aktivitäten für eine Popularisierung von klassischer Musik entwickelt, etwa «Die drei Tenöre». War es früher einfacher, ein breiteres Publikum zu erreichen?

Die Plattenwelt befindet sich heute leider in einer Phase des Niedergangs im Vergleich zu meiner Zeit. Was «Die drei Tenöre» betrifft, hatten wir alle drei, denke ich, eine solide Karriere auf dem Buckel und die richtige Chemie und Empathie dem Publikum gegenüber. So waren wir vor dreissig Jahren die Vorläufer für eine besondere Art und Weise, zusammen Musik zu machen und zu geniessen. Wir hatten Spass, das ging aufs Publikum über, und so haben sich viele, viele Menschen dem Theater und der Oper angenähert.

Sie haben immer viel Energie auf die Karriereentwicklung junger Sänger verwendet, vor allem mit Ihrem Operalia-Wettbewerb. Ist es heute leichter oder schwieriger, eine Karriere in Gang zu bringen?

Im gegenwärtigen Augenblick ist natürlich leider alles viel schwieriger, aber im generellen Vergleich haben verdienstvolle junge Menschen heute viel mehr Gelegenheiten, sich zu profilieren. Vor allem können sie einen viel vollständigeren und homogeneren Entwicklungsprozess verfolgen und bekommen oft auch Zugang zu Stipendien. Hinzu kommt, dass alle grossen Theater Programme für junge Sänger haben, die sie sehr gut vorbereiten und sogar bezahlt sind. Wir dagegen mussten alles für uns allein herausfinden und bezahlen. Alles in allem ist es selten, dass jemand nicht wahrgenommen wird, der das Zeug zum Aufstieg hat. Dennoch geht mit der schnelllebigeren Welt von heute das Risiko einher, die Stufen zu schnell hinter sich zu bringen. Deshalb ziehen einige grosse Verheissungen leider wie ein Meteor vorüber.

Glauben Sie, dass die gegenwärtigen Schliessungen einen Einfluss auf die Zukunft der Oper haben werden?

Wahrscheinlich wird es zu einer notwendigen Umverteilung von Ressourcen wenigstens in einer ersten Phase bei der Wiederaufnahme des Betriebs kommen. Sobald die Dinge besser zu laufen beginnen, wird es viel Enthusiasmus geben, und die Leute werden auch die verlorene Zeit nachholen wollen. Dann werden sie versuchen, sich an den Dingen zu erfreuen, deren wir dieser Monate beraubt worden sind. Mein Wunsch ist daher, dass auch unsere Theater wieder aufblühen werden.


 
 
 

Comments


© 2021 by Galileo

bottom of page